An(ge)dacht Oktober/November
Jesus Christus spricht: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“
Lukas 17,21
Zur Zeit Jesu war die Gegend rund um Judäa unter römischer Herrschaft. Die römische Truppenpräsenz und die Zivilverwaltung bestimmten den Alltag und sorgten oft für Spannungen und Auflehnung der jüdischen Bevölkerung. Die religiöse Obrigkeit hat einerseits mit den römischen Machthabern kooperiert, gleichzeitig konnte sie in Teilbereichen Widerstand leisten. Es gab sehr unterschiedliche Ansätze, wie mit der römischen Herrschaft umgegangen wurde, die von passiver Koexistenz bis hin zum offenen Widerstand z.B. der Zeloten reichte.
Mitten in diese Situation hinein fragen die Pharisäer: „Wann wird denn das Reich Gottes kommen?“ Diese Frage finde ich sehr nachvollziehbar, steckt doch der große Wunsch nach Veränderung und Befreiung aus dieser unangenehmen Besatzung dahinter. Wann greift Gott endlich durch und beweist seine Macht? Wann tritt der Gott Israels seine königliche Weltherrschaft an und macht diesem Elend ein Ende? Wann werden die Machthaber dieser Welt in ihre Schranken verwiesen?
Die Pharisäer sind mit ihrer Vorstellung von Gottes Reich auf der falschen Fährte, wie die Antwort von Jesus auf ihre Frage zeigt: „Das Reich Gottes kann man nicht sehen, wie man ein irdisches Reich sieht. Niemand wird euch sagen können: ‚Hier ist es!‘ oder ‚Dort ist es!‘ Das Reich Gottes ist schon jetzt da – mitten unter euch.“ (Lukas 17,21 aus HfA).
Das Reich Gottes ist nicht etwas, das man durch äußere Zeichen oder Orte erkennen kann. Es ist schon „mitten unter uns“. Andererseits bringt uns Jesus im Vater Unser bei, das Kommen des Reiches Gottes zu erbitten: „Dein Reich komme!“.
Das Reich Gottes ist also eine gegenwärtige und lebendige Realität und gleichzeitig noch nicht vollkommen. Was bedeutet das für uns heute?
Wenn ich mich so umschaue, leben wir in unserer Welt nicht gerade in einer friedlichen Idylle. Klimakatastrophen, Kriege mit bedrohlicher Reichweite, bedrohtes und gefährdetes Leben… wie die Pharisäer damals würde ich mir wünschen, dass Gott eingreift und seine Stärke demonstriert. Schließlich ist der Zustand unserer Erde wirklich besorgniserregend. Aber uns gibt Jesus diese schlichte Antwort: „Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch!“ Gott wirkt und ist schon seit langem dabei, sein Reich zu bauen.
Nicht wenige Christen können das kaum erwarten. Sie bauen sich aus einzelnen Bibelworten (vorzugsweise aus der Offenbarung des Johannes) ein eigenes Szenario vom Sichtbarwerden des Gottesreiches.
Prof. Dr. Rüdiger Lux schreibt in einer Andacht zu unserem Bibelvers (https://www.thomaskirche.org/glauben/predigten-ansprachen-vortraege/detail-news/predigt-zu-lukas-1720-21): „Und doch möchte ich davor warnen, die apokalyptischen Reiter an die Wand zu malen. Alle Weltuntergangspropheten haben sich bisher gründlich geirrt, weil sie Gott nicht mehr Gott sein lassen wollten. Sie glaubten, es wäre an ihnen, die letzte große Schlacht der Menschheitsgeschichte zu schlagen. Sie lebten in dem Wahn, das Reich Gottes in die eigenen Hände nehmen zu müssen, sich selbst zu erlösen in einer unerlösten Welt. Wo diese Menschheitsexperimente endeten, das wissen wir aus der Geschichte des 20. Jh. nur zu gut: In einem Fiasko!
Herr Lux rät zu „jesuanischer Nüchternheit und Bescheidenheit“. Nicht wir müssen die Welt retten, denn der Platz des Retters ist schon längst besetzt. Wir dürfen von der Güte Gottes leben. Wir dürfen täglich neu ein Stück seines Himmelreiches erleben, wenn wieder ein neuer Tag beginnt und wir erfahren: „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören, solange die Erde steht!“ (1. Mose 8,22). Gottes Güte und sein Dienst an uns beginnen nicht erst am Ende der Tage, sondern schon jetzt und ganz real. Wie oft durfte ich erleben, dass Gott in konkreten Situationen eingreift oder meine Gedanken und Ereignisse lenkt. Im Sommer haben wir Urlaub in Norwegen gemacht und sehr oft gedacht: „Genau das passende Wetter zur passenden Zeit!“ Oder auch „Gut, dass der LKW an dieser schmalen Bergstraße die Kurve nicht noch weiter geschnitten hat!“
Wie tröstlich und wie beruhigend, dass Gott am Werk ist. Und wie motivierend, mitzumachen.
Gott ermutigt uns und lädt uns ein, mit an seinem Reich zu bauen. Dafür muss ich - Gott sei Dank - nicht die ganze Welt retten. Aber ich darf im Kleinen mithelfen, Gottes Liebe zu verbreiten. Ich kann z.B. bei einer alten Nachbarin nachfragen, wie es ihr so kurz vor der OP geht, von der sie mir erzählt hat. Ich kann für eine trauernde Familie beten und für sie da sein. Ich kann ein offenes Ohr haben für die Sorgen einer Freundin usw.
Ich möchte nach dem Vorbild Jesu leben, mich von ihm verändern lassen, damit Gott mich gebrauchen kann, um andere Menschen zu erreichen und sie auf dem Weg zu Gott zu begleiten. Ich muss gar nicht mehr fragen: „Wann kommt dein Reich?“ sondern ich kann fragen: „Wie kann dein Reich durch mich schon jetzt sichtbar werden?“
Claudia Breßgott