An(ge)dacht Juni/Juli
Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist.
2. Mose 23,2
Das klingt doch mal einfach. Mehrheiten soll man sich nicht anschließen, wenn sie im Unrecht sind. Aber ich ertappe mich dabei, wie ich mich sehr gerne der Mehrheit anschließe. Es ist doch einfacher und bequemer, als gegen den Strom zu schwimmen. Wieviel Kraft kostet es, gegen die „Mainstream‟-Meinung (also die Meinung der breiten Mehrheit) anzutreten.
Da wird das Heizungsgesetz in der Öffentlichkeit auseinandergenommen. Man ist „Mainstream‟, wenn man dagegen ist – viel zu teuer, viel zu viel Zumutung für die Hausbesitzer, viel zu viel alles. Und ich? War da nicht auch ein notwendiges, ja geradezu „weltexistenznotwendiges‟ Interesse, das Klima mehr zu schützen?
Da ziehen die Kollegen über „die‟ Kirche im Allgemeinen und im Speziellen her. Wie kann man da noch dran glauben, bei dem ganzen Missbrauch und den korrupten Machtstrukturen. Und ich? Es ist doch auch wirklich so, dass das so nicht gehen kann in der Kirche, oder?! Kann ich mich da nicht der Mehrheit anschließen? Welche Haltung äußere ich in dieser Situation?
Oder da fällt ein offensichtlich Obdachloser im Bahnhof unangenehm auf. Er ist betrunken und hat sichtbar viele Tage keine Dusche mehr benutzt. Die Menge drumherum lässt ihn ihre Ablehnung und ihren Ekel über seine Verwahrlosung spüren. Und ich?
Wie schwer ist es, in den ganz alltäglichen Situationen diese Aufforderung aus dem Regelkatalog im 2. Buch Mose umzusetzen.
Woher weiß ich denn, ob die Mehrheit überhaupt im Unrecht ist? Wer entscheidet, ob eine Mehrheit recht oder unrecht hat? Neben einigen vielleicht offensichtlichen Fragestellungen ist unser Alltagsleben ja voll von diesen „nicht ganz eindeutig‟-Fragestellungen. Die Welt ist nicht schwarz-weiß, auch wenn wir das gerne hätten. Im Allgemeinen ist da viel „grau‟ – man kann das so oder auch anders sehen. Wer hat denn Unrecht beim Heizungsgesetz oder beim Urteil über die Kirche? Die ungerechte Ablehnung eines Obdachlosen ist da in meinen Beispielen noch der einfachste Fall.
Neben dieser Suche nach dem Unrecht gilt es aber gleichzeitig auch etwas Wichtiges festzustellen. Mit der Aufforderung, sich nicht falschen Mehrheiten anzuschließen, ist nicht gesagt, dass wir grundsätzlich etwas gegen Mehrheitsmeinungen haben sollen. Dort wo Mehrheiten offensichtlich nicht im Unrecht sind, lohnt es sich, über diese Mehrheitsmeinungen auch nachzudenken. Denn Mehrheitsmeinungen, die nur schon aufgrund der Tatsache, dass sie „Mainstream‟ sind, argwöhnisch als „Äußerungen des gleichgeschalteten Mainstreams‟ abgetan werden, sind dadurch noch längst nicht falsch. Manche Verschwörungstheorie der vergangenen Jahre beruft sich geradezu auf dieses Prinzip, Mehrheitsmeinungen quasi grundsätzlich kritisch gegenüberzustehen.
Was nehme ich mit für meinen Glauben aus diesem Monatsspruch? Ich möchte versuchen, wachsam zu bleiben für Gottes Gerechtigkeit in dieser Welt. Dort, wo ich erkenne, dass Unrecht propagiert wird und sogar zur Mehrheitsmeinung erhoben wird, dort möchte ich mich mutig positionieren und gegen das Unrecht angehen. In diesem Sinn möchte ich den Monatsspruch für Juli als Aufforderung verstehen, mein Gewissen stets zu schärfen und nicht ohne nachzudenken vermeintlich plausiblen Mehrheiten nachzulaufen.
Mir und Euch wünsche ich Weisheit, das Unrecht zu erkennen, wenn es sich in Mehrheitsmeinungen zu verstecken sucht.
Wolfgang Breßgott